Diverse Zeiten
Filmpodium Zürich
In den vergangenen Jahren schuf eine neue Generation georgischer Filmemacher:innen eine Reihe von Werken, die weltweit für Aufmerksamkeit sorgten. Im Zentrum ihrer Geschichten stehen gesellschaftliche Aussenseiter:innen und sozialkritische wie feministische Themen. Ein Kino der künstlerischen Freiheit und des Aufbruchs.
Ein Essay von Lela Otschiauri
Seit seinen Anfängen vor 116 Jahren ist das georgische Filmschaffen immer wieder von politischen, sozialen und gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen betroffen, die sich auf Form und Stilmittel auswirken. Während Georgiens Zugehörigkeit zur Sowjetunion – unter Terror, Propaganda und Zensur – hatte der georgische Film mit massiven Behinderungen zu kämpfen und nahm, um die eigenen Werte zu wahren, diesen Kampf auch oft auf. Die Isolation durch den Eisernen Vorhang behinderte zwar eine mit dem Rest der Welt parallel verlaufende Entwicklung des Kinos, verhalf dem georgischen Film jedoch zu einem ganz eigenen Gesicht und Stil, zu eigenen Genre- und künstlerischen Ausdrucksformen. Im Wechsel der Zeiten verliehen ihm die unterschiedlichen Generationen von Filmschaffenden immer wieder neue Richtungen, Besonderheiten und Vielfalt. Nach 1991, als Georgien seine Unabhängigkeit wiedererlangte, orientierte sich die Gesellschaft und mit ihr die Kinematografie abermals und nicht zum ersten Mal neu und kehrte, im wahrsten Sinne des Wortes, zurück in die zivilisierte Welt.
Heute begegnet das georgische Filmschaffen den neuen künstlerischen wie politischen Herausforderungen vielseitig und engagiert. Sich ändernde Zeiten und Bedingungen lassen neue Themen in den Fokus rücken und richten das Interesse der Regisseur:innen auf multiperspektivische, mehrdimensionale Filmcharaktere. Angesichts der drängenden Überlebensfragen versuchen Regisseur:innen dieser „neuen Welle“, Geschichten neu zu erzählen, anders darzustellen, sich von Beeinflussung zu befreien. In "April" zeigt uns Dea Kulumbegaschwili eine Gesellschaft von pharisäischen Moralisten, die nach absoluter Kontrolle strebt und alle zu vernichten versucht, die sich nicht in die „Norm“ pressen lassen. Die Regisseurin erhebt die Stimme gegen die Gewalt und erklärt sich solidarisch mit den Opfern, den Frauen. Auch in "Holy Electricity" von Tato Kotetischwili stehen Menschen im Mittelpunkt, die ihren Platz innerhalb der Gemeinschaft verloren haben und sich an den Rändern der Gesellschaft auf die Suche nach Liebe und Freundschaft machen.
In allen gezeigten Filmen denken die Filmemacher:innen über Probleme nach, welche die Gesellschaft beschäftigen und deren Alltag bestimmen; durchgängige Themen dabei sind soziale Verhältnisse, Drogensucht, Generationenkonflikt oder -unvereinbarkeit, Weltflucht, Gewalt in allen sozialen Schichten sowie die Folgeerscheinungen der schrumpfenden Familien (ein Grund für die vielen unvollständigen Familien liegt in der Emigration, die für das Land ein akutes soziales Problem darstellt). Ein „generelles“ Thema sind die Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts von Russland befeuerten Kriege auf georgischem Boden. In letzter Zeit sind schließlich verschiedene Filme entstanden, die queere Held:innen zeigen und das gestörte Verhältnis der Gesellschaft zu ihnen behandeln, wie beispielsweise Ioseb Soso Bliadses "A Room of My Own", eine Liebesgeschichte zweier Frauen, deren Emanzipation durch die patriarchale Gesellschaft massiv bedroht wird. Die Darstellung queerer Identitäten war im georgischen Kino bisher tabuisiert und ist auch jetzt noch ein riskantes Thema. Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und eine Emanzipation der Filmkunst gelingt nur durch Handeln. Filmregisseur:innen der jungen Generation tun genau das.
Prof. Dr. Lela Otschiauri, Kunstwissenschaftlerin, Staatliche Schota-Rustaweli-Universität für Theater und Film in Tbilissi
Übersetzung aus dem Georgischen: Rachel Gratzfeld